Tamar – die Zerstörung einer Frau in einem Gewaltsystem
– Der Text: 2. Sam 13
Übersetzung: Bibel in gerechter Sprache, Gütersloh 2006)
1 Danach geschah Folgendes: Abschalom, der Sohn Davids, hatte eine schöne Schwester namens Tamar. Amnon, der Sohn Davids, liebte sie. 2 Dies bedrückte Amnon so, dass er wegen seiner Schwester Tamar krank wurde. Sie war ja eine Jungfrau, und es schien Amnon unmöglich, ihr etwas anzutun. 3 Nun hatte Amnon einen Freund namens Jonadab, der Sohn Schimas, des Bruders Davids. Jonadab war ein sehr kluger Mann. 4 Der sagte zu ihm: „Warum bist du, ein Sohn des Königs, Morgen für Morgen derart elend? Willst du mir das nicht erzählen?“ Da sagte Amnon zu ihm: „Ich liebe Tamar, die Schwester meines Bruders Abschalom.“ 5 Jonadab sagte zu ihm: „Lege dich in dein Bett und stelle dich krank! Wenn dann dein Vater kommt, um nach dir zu sehen, sagst du zu ihm: Meine Schwester Tamar soll kommen und mich mit Nahrung stärken; sie soll vor meinen Augen die Krankenkost zubereiten, damit ich es sehe und es dann von ihrer Hand gereicht bekomme.“ 6 So legte sich Amnon hin und stellte sich krank. Als der König kam, um nach ihm zu sehen, sagte Amnon zum König: „Meine Schwester Tamar soll doch kommen und vor meinen Augen zwei Stück Herzkuchen formen; dann will ich mich von ihrer Hand stärken.“ 7 Da schickte David zu Tamar ins Haus und ließ sagen: „Geh doch ins Haus deines Bruders Amnon und bereite ihm die Krankenkost.“ 8 So ging Tamar in das Haus ihres Bruders Amnon. Der lag im Bett. Dann nahm sie den Teig, knetete und formte ihn vor seinen Augen und buk Herzkuchen. 9 Hierauf nahm sie das Blech und richtete vor ihm an. Er aber weigerte sich zu essen. Amnon sagte: „Schickt alle weg von mir!“ Da gingen alle hinaus. Dann sagte Amnon zu Tamar: „Bring die Krankenkost ins Zimmer, damit ich mich von deiner Hand stärke!“ Da nahm Tamar die Herzkuchen, die sie gemacht hatte, und brachte sie ihrem Bruder Amnon ins Zimmer. 11 Und sie reichte ihm das Essen. Da packte er sie und sagte zu ihr: „Komm, schlaf mit mir, meine Schwester!“ 12 Sie aber sagte zu ihm: „ Nicht doch, mein Bruder! Vergewaltige mich nicht! So etwas tut man nicht in Israel. Begehe nicht diese Untat! 13 Ich, wohin soll ich mit meiner Schande? Und du, du wirst wie einer von den Verbechern in Israel dastehen. Rede doch mit dem König, er wird mich dir nicht verweigern!“ 14 Aber er wollte nicht auf ihre Stimme hören. Er überwältigte sie, vergewaltigte sie und schlief mit ihr. 15 Aber dann hasste Amnon sie mit sehr großem Hass, ja der Hass, mit dem er sie hasste, war größer als die Liebe, mit der er sie geliebt hatte. Und Amnon sagte zu ihr: „Los, hau ab!“ 16 Sie sagte zu ihm: „Nicht doch! Es wäre eine noch schlimmere Tat als die erste, die du mir angetan hast, wenn du mich jetzt auch noch wegschickst.“ Aber er wollte nicht auf sie hören, 17 sondern reif den jungen Mann, der ihn bediente, und sagte: „Schickt doch die da fort von mir! Raus! Und schließ die Tür hinter ihr zu!“ 18 Sie aber trug ein langärmeliges Kleid; denn solche Gewänder zogen die Töchter des Königs an, solange sie jungfräulich waren. Als nun sein Diener sie nach draußen führte und die Tür hinter ihr zuschloss, 19 tat Tamar Staub auf ihren Kopf, zerriss das langärmelige Kleid, das sie trug, legte die Hand auf ihren Kopf und ging laut schreiend davon. 20 Da sagte ihr Bruder Abschalom zu ihr: „War dein Bruder Amnon bei dir? Nun, meine Schwester, sei still! Er ist ja dein Bruder. Nimm dir die Sache nicht so zu Herzen!“ So blieb Tamar völlig zerstört im Haus ihres Bruders Abschalom wohnen. 21 Als König David von all diesen Vorfällen hörte, wurde er sehr zornig. 22 Und Abschalom redete kein Wort mehr mit Amnon, weder im Guten noch im Bösen. Denn Abschalom hasste Amnon dafür, dass er seine Schwester Tamar vergewaltigt hatte.
Gewalttexte – eine Lektüreanleitung
Der Text schildert die brutale Vergewaltigung und Zerstörung einer jungen Frau. Er gehört also zu den Gewalttexten, die in der Bibel zu finden sind und viele LeserInnen verstören.
Gewalt ist eine historische Realität. Gewalt ist auch eine biblische Realität. Tatsächlich nimmt das Thema „Gewalt“ in der Bibel einen großen Raum ein. In vielen Erzählungen ist von Krieg und anderer Gewalt die Rede, moralische Prinzipien werden gewaltbewehrt zur Norm erhoben, Rache- und Gewaltphantasien durchziehen biblische Gebete, Gott selbst wird angerufen, um mit Gewalt seine Herrschaft zu realisieren.
Eine erste Rückfrage ist also die, wie man denn erwarten wollte, dass die Bibel etwas mit der Realität des Lebens von Menschen und Völkern zu tun haben könne, wenn die Realität der Gewalt dabei ausgeblendet wäre. Und doch bleibt das Erschrecken vor der Gewalt, die in der Bibel zur Sprache und in Sprache kommt. Man ist häufig versucht, diese Texte zu überspringen, nach Gegentexten zu suchen, das Thema „Gewalt“ ausschließlich dem sogenannten „Alten Testament“ zuzuordnen, das dann im „Neuen Bund“ durch das Prinzip „Liebe“ als erledigt anzusehen wäre. Doch dem ist nicht so – ein Blick in das letzte Buch der christlichen Bibel, die Offenbarung des Johannes z. B. genügt, liest es sich doch teilweise wie eine Anleitung zu Folter und Marter und liefert genügend Material für Verfolgung und Ausgrenzung. Nicht zuletzt ist es bevorzugte Lektüre von Sekten.
Die Bibel weist daraufhin, dass das Leben „jenseits von Eden“ durch Gewalttaten geprägt und gefährdet ist, dass die uns umgebende Wirklichkeit nicht dem entspricht, was der Schöpfungsbericht der Priester Gen 1 mit dem meint: „Und siehe: es war sehr gut“. Man liest nun aber gewöhnlich Gen 2 und 3 hintereinander, als historischen, „zeitlichen“ Ablauf. Doch die bildhaften Erzählungen sind nebeneinander zu verstehen:
Die erste Erzählung schildert, wie die Verhältnisse wirklich sind, wie Gott sie gewollt hat.
Die zweite, wie die Verhältnisse wirklich sind und sich gegen Gott richten.
Gen 4-11 zeigen auf, wie von Männern gesetzte Gewalttaten gelingende Beziehungen zwischen Menschen, aber auch zur anvertrauten Schöpfung zerstören. Und sie sprechen deutlich Gottes „Nein“ dazu aus.
Biblische Texte sind zudem geschichtsbedingt vielfach Zeugnisse eines patriarchalen Denkens.
Kennzeichen einer patriarchalen Kultur ist die Herrschaft von Männern über Frauen – auch hierüber lernen wir viel in unserem Text. In Gen 3 wird das erklärt: Männer herrschen über Frauen. Aber wird es auch gut geheißen? In Eden als guter Schöpfung Gottes ist es nicht so: Mann und Frau sind einander Gegenüber und Ergänzung. Dies Gegenbild bleibt also im Bewusstsein und gestaltet unsere Sehnsucht nach dem ganz anderen. Die Erzählung markiert wie alle Urgeschichten eine Differenz zwischen dem, was ist und dem, was hätte sein können und beschreibt gleichzeitig die erfahrene Wirklichkeit. Es lohnt sich, die Mechanismen von Brudermord, Turmbau, Sintflut auf die Frage, wie anders hätte entschieden und gelebt werden können, zu untersuchen. Die so entstehenden Bilder führen zu den Friedensvisionen der Propheten. Die beschriebene Realität muss und darf nicht zur Norm erhoben werden. Das ist aber in der Wirkungsgeschichte der Texte häufig geschehen: so wurde noch bis ins 20. Jahrhundert hinein den Frauen mit der Berufung auf Gen 3 Linderung der Schmerzen beim Gebären verweigert. Die Erleichterung der Mühsal landwirtschaftlicher Arbeit durch Maschinen hingegen wurde vorangetrieben…
Die Überlegenheit des Mannes über die Frau wurde weithin als gottgewollte Ordnung angesehen. Sehr vorschnell wurde die Frau als Verführerin bis heute diskriminiert und benutzt – man denke nur an die Instrumentalisierung des Frauenkörpers in der Werbung. Die Sätze: „Mit Schmerzen sollst du Kinder gebären! Nach deinem Mann wirst du verlangen: er aber soll dein Herr sein!“ (Gen 3,16) wurden als Gebotssätze gelesen, statt als Zustandsbeschreibung.
Das Thema von Gen 3 ist nicht „Sündenfall“ – das Wort „Sünde“ kommt nicht vor, ist aber in Gen 4 Leitwort! Gen 3 beschreibt vielmehr den Menschen, wie er war und ist: schwach, ängstlich, anfällig, manipulierbar, misstrauisch, bereit zu Ungehorsam, was der Weigerung, zu hören entspricht. Gen 4 redet dagegen von Sünde als Gewalt, die vom Mann ausgeht.
Auch in unserem Text ist das so.
– Interessen im Hause Davids
Die Erzählung von Tamar ist eingebettet in die Geschichte der Königszeit (1./2.Sam), die ausdrücklich gegen den Willen Gottes begonnen wurde. In 1. Sam 8 warnt ja Samuel das Volk vor der Etablierung der Königsherrschaft und skizziert die möglichen Mechanismen der Machtergreifung und -ausübung auf Kosten des Volkes.
Die Bücher Samuel gelten als Bearbeitung der Überlieferung durch die Deuteronomisten nach dem babylonischen Exil, also zu einer Zeit, da das Königtum als gescheitert anzusehen war. Sie sehen den Grund für das Versagen darin, dass die Könige wie auch das Volk in der Richterzeit Gott nicht als den allein Maßgeblichen anerkannten und verehrten. Maßstäbe und Normen werden nach biblischem Verständnis nicht von Machthabern gesetzt oder vorgegeben, sondern sie werden durch die Tora geliefert, die auch in unserem Text zu Wort kommt, wie wir sehen werden.
Die Szene 2. Sam 13 führt uns ins Zentrum der Dynastie Davids. Das Königtum Davids hat im Laufe der Geschichte Israels immer idealere Züge angenommen. Er ist (2. Sam 8,15) zum Urbild messianischer Hoffnung geworden. Auch im Religionsunterricht wird meist eine Idealisierung vorgenommen. Stefan Heyms Roman „Der König David Bericht“ (1972) stellt die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der Überlieferung sehr eindringlich. Denn die Überlieferung hält völlig gegensätzliche Aspekte bereit, die auch in unserem Text zu erkennen sind. Tamar – die „Palme“- ist als Davids Tochter hineingestellt in das Beziehungsgeflecht einer Männergesellschaft. Ihre Mutter bleibt ungenannt, aber die Tatsache, dass der dritte Sohn Davids Abschalom ihr Bruder ist, gibt der Mutter einen Namen: Maacha, Tochter Talmais, des Königs von Geschur. Amnon, der sich in Tamar verliebt, ist Davids Erstgeborener. Seine Mutter ist Ahinoam, eine Frau aus Jesreel. (2. Sam 3, 1-5) An diesen Müttern kann man die zweckdienliche Heiratspolitik Davids erkennen, die soziale Schichten und Landstriche an sein Haus bindet.
– Exegese
Amnon nun verliebt, besser verschaut sich in Tamar. Denn er folgt dem Muster sehen, begehren, nehmen. Darin ist er ganz sein Vater, denn auch David sieht Bathseba von dem Dach seines Palastes aus, begehrt und nimmt sie (2. Sam 11). Jede Interpretation, dass Bathseba etwa ihre Reize ausgespielt habe, übersieht, dass sie die rituelle Waschung in fließendem Wasser nach ihrer Menstruation durchführt (vs4), also auch am Höhepunkt ihrer monatlichen Fruchtbarkeit ist. Es hätte für sie keine Möglichkeit gegeben, sich dem Befehl Davids zu ihm zu kommen, zu widersetzen: Er ist der König. Auch Bathseba ist Gewalt angetan worden.
Schon in Vers 2 wird die eigentliche Intention des verliebten Amnon genannt: „Sie war ja eine Jungfrau, und es schien Amnon unmöglich, ihr etwas anzutun.“ Die jungfräulichen Mädchen aus dem Haus Davids standen unter des Königs Schutz, Obsorge, aber auch Verfügungsgewalt. Nicht Beziehung, Liebe ist es, was Amnon bewegt, sondern gewaltsamer Zugriff, in Besitz nehmen ist sein Ziel. Dies Begehren richtet sich auch auf die Königsmacht. In der Antwort auf die Frage seines Freundes Jonadab, warum es ihm so elend gehe, liegt ein zweiter Grund dafür, dass sich Amnon noch zurückhält: Tamar ist die Schwester Abschaloms, demjenigen, der in der dynastischen Folge wohl gut positioniert ist. Jonadab entwirft jetzt eine Inszenierung, die Tamar zum Verhängnis werden wird. Amon stellt sich krank und kann damit rechnen, dass sein Vater David ihn besucht. David pflegt offenbar Beziehungen zu seinen Söhnen – nicht zu seinen Töchtern. David veranlasst denn auch, dass Tamar zur „Krankenpflege“ seines Sohnes entsprechend den Wünschen Amnons erscheint. Tamar bereitet nun die Krankenkost vor den Augen Amnons zu: Das Wort „Herzkuchen“ lässt sich nur im Deutschen mit Erotik assoziieren, im Hebräischen ist das Herz nicht Sitz der Gefühle, sondern der Lebensplanung, des Verstandes und der Willensstärke. Amnon verfolgt ihr Kneten und Formen des Teigs – auch hier wird der Voyeurismus deutlich. Noch spielt sich die Szene in Gegenwart von Dienern und Dienerinnen ab. Erst als Tamar ihm die Kuchen anrichtet – wohl auf einem Tisch in einem dem eigentlichen Schlafgemach vor gelagerten Raum, schickt Amnon alle hinaus. Der Ausschluss von Zeugen ist Merkmal von Schreckensherrschaft! Er befiehlt Tamar zu sich, damit sie ihn füttern möge. Erst jetzt erkennt sie seine Absicht, die er ihr brutal klar macht. Tamar bittet ihn in einer bemerkenswert rhetorisch formulierten Antwort, sie zu schonen. Sie fleht und bittet nicht, sondern sie bringt sein Vorhaben auf den Punkt: „Vergewaltige mich nicht!“ Und sie bringt die Tora ins Spiel: „So etwas tut man nicht in Israel. Begeh’ nicht diese Untat.“ Durch die von Tamar in unserem Text vorgenommene Qualifikation des Tuns von Amnon als Verbrechen und Sünde beurteilt die Überlieferung, nimmt Partei für Tamar.
Tamar nennt die Folgen, stellt Amon ihr Schicksal vor Augen – sie würde aus allen sozialen Bezügen stürzen. Aus ihren Worten wird deutlich, dass es eine andere, offizielle Lösung geben würde: Amon könnte König David um die Verbindung mit ihr bitten. Doch Amon hört nicht auf sie. Er bricht jede mögliche Kommunikation mit Tamar ab. Er will keine Beziehung, keine legale Ehe, er will nur überwältigen, seinem Begehren unterwerfen, ihren Körper benutzen und missbrauchen. Nachdem er seine Gier befriedigt hat, wirft er Tamar gleichsam weg. Seine „Liebe“ verkehrt sich in Widerwillen, ja, Hass. Und auch hier argumentiert Tamar mit den ethischen Prinzipien der Tora: „Es wäre eine noch schlimmere Tat als die erste, die du mir angetan hast, wenn du mich jetzt auch noch wegschickst.“ Und wieder ignoriert Amnon ihren mahnenden Einspruch. Er lässt sie vielmehr durch seinen Diener hinauswerfen. Diese Abfuhr, dieser Rausschmiss ist für Tamar umso zerstörender, als er den Missbrauch an ihr öffentlich macht. Jetzt hat Tamar keine Worte mehr. Sie zerreißt ihr Gewand der Jungfrauen, wirft Asche auf ihr Haupt und gibt sich damit das Äußere einer Frau, deren Leben zerstört ist. Sie hat keine Worte mehr für die Untat an ihr, sondern schreit und schreit. Erst Abschalom, ihr Bruder, bringt sie zum Schweigen: „War dein Bruder Amnon bei dir? Nun, meine Schwester, sei still! Er ist ja dein Bruder. Nimm dir die Sache nicht so zu Herzen!“ Seine Worte verfehlen gänzlich irgendeinen Trost für Tamar. Sie positionieren Tamar nur in dem familiären Umfeld, das Gewalt anscheinend billigt: zweimal bezeichnet Abschalom Amnon als Tamars Bruder – das ist für ihn Grund genug, über die Gewalttat hinwegzusehen. Er sorgt nur dafür, dass sie überleben kann, indem er sie in sein Haus aufnimmt. Aber Tamar ist und bleibt gebrochen, „völlig zerstört“.
Für Amnon hat seine Tat vorerst keine Folgen: König David ist „zornig“, greift aber in einer Weise ein, Abschalom hasst Amnon, aber die Begründung für diesen Hass – „weil er seine Schwester Tamar vergewaltigt hatte“ – dient vielleicht nur als Rechtfertigung für den späteren Mord an Amnon, womit er einen bevorzugten Mitbewerber um die Thronnachfolge ausschaltet (1. Sam 13,23-37) David trauert lange um Amnon. Von Tamar ist nicht mehr die Rede. Abschaloms Hass wegen der Vergewaltigung Tamars dient als Erklärungsmuster für König David, das nun wieder Jonadab David anbietet, um zu verschleiern, dass Abschaloms Ziel der Thron Davids ist. So kann David den zur Flucht gezwungenen Abschalom drei Jahre später begnadigen und zurückholen. Abschalom aber plant den Sturz Davids und hat offenbar genug Gefolgsleute, sodass David aus Jerusalem fliehen muss (2.Sam 15). Er lässt aber zehn Nebenfrauen zurück, „um das Haus zu bewahren“(vs 16). Das „Haus“ ist hier nicht nur räumlich als ein Ort, sondern auch als Symbol der Dynastie zu verstehen. Auch an ihrem Schicksal wird deutlich, was für einen Stellenwert Frauen in der Davidsgeschichte einnehmen: es wäre ein Missverständnis, den Frauen stellvertretende Teilhabe an der Macht Davids zuzuerkennen. Denn letztlich liefert David sie Abschalom aus. Der vergewaltigt sie alle öffentlich „vor den Augen ganz Israels“ auf dem Dach des Palastes, von wo aus David sich Bathsebas bemächtigte (2. Sam 16,22). Er tut das zur Dokumentation seines Herrschaftsanspruches. Er dringt über den Körper der Frauen in den Herrschaftsbereich Davids ein und erklärt den König für so ohnmächtig, wie die Frauen es sind.
Für Tamars Schändung gibt es keinen öffentlichen Raum, den sie noch mit ihrem Schreien zu erreichen versucht. Die Gewalttat an ihr wird innerfamiliär vertuscht. Sie wird zum Schweigen von Abschalom gebracht und hinter verschlossenen Türen verwahrt. Doch der überlieferte Text widersetzt sich dem Schweigegebot Abschaloms und nimmt sich ihrer an und redet, schreit an ihrer Stelle. Deshalb kann man sagen, dass unser Text redet, weil Gewalt nicht vertuscht werden und nicht das letzte Wort haben soll.
– Religionspädagogische Überlegungen:
Die Geschichte der Tamar ist brutal. Der Einsatz im Religionsunterricht muss wohl bedacht sein und eignet sich allenfalls für die vierte Klasse der Sekundarstufe I. In diesem Alter sind die entwicklungspsychologischen Voraussetzungen bei Buben nicht tauglich, um diesem Text gerecht zu werden. Aber in Mädchengruppen könnte die Tamargeschichte Material liefern, über die biblische Gestalt der Tamar eigene Ängste oder Gewalterfahrungen gleichsam „objektiv“ zur Sprache zu bringen. Es wäre kurzsichtig, davon auszugehen, dass Mädchen dieses Alters noch keinerlei Erfahrungen mit Sexualität haben. Vor allem in Neuen MIttelschulen im städtischen Bereich leiden Mädchen häufig unter verbalen und auch körperlichen Übergriffen auf ihre Integrität. Sie könnten Tamar in einem Brief Verständnis und Trost (?) mitteilen. Ein Klagelied Tamars zu formulieren wäre eine weitere Option, mit dem Text zu arbeiten. Vor allem könnten sie im Text selbst Fürsprache entdecken, wenn sie verstehen, dass der Text für sprachlos Gemachte redet. Eine gute Methode, um das zu verdeutlichen, ist, zu zweit den Text einander laut vorzulesen, sodass jeweils ein Mädchen hört und ein Mädchen spricht. Nonverbal ließe sich die Geschichte Tamars in Collagen oder abstraktem Einsatz von Farben, die dann von der Gewalt sozusagen getilgt werden darstellen.
Mit äußerster Behutsamkeit könnte im Unterricht auch das Thema „Missbrauch“ verhandelt werden. Großes Vertrauen müsste in der Gruppe Grund gelegt, offenes Gespräch in einem Schutzraum möglich sein. Sind diese Voraussetzungen nicht gegeben, sollte man sich auf ein objektiveres Terrain begeben. Dafür wäre eventuell geeignet, der Resolution 1820 des UN Sicherheitsrates vom Juni 2008 zu sexueller Gewalt in Pressemeldungen nachzugehen und zu diskutieren. (im Anhang).
Es wäre möglich, die SchülerInnen zu bitten, eine Charakterisierung der Friedensbotschafter/in und deren Aufgabenbereich fest zu legen, deren/dessen Aufgabe es sei – so der UNO Ratsvorsitzende, sich für ein Ende der Gewalt gegen Frauen einzusetzen.
Anhang:
Pressereaktionen auf die Resolution 1820 der UNO Juni 2008
taz GENF, 21. Juni 2008
Der UNO-Sicherheitsrat hat ein Ende der sexuellen Gewalt gegen Frauen und Mädchen in bewaffneten Konflikten gefordert und den Verantwortlichen für derartige Verbrechen mit strafrechtlicher Verfolgung gedroht. „Human Rights Watch“ sowie andere Menschen- und Frauenrechtsorganisationen sprachen angesichts des weit verbreiteten und systematischen Einsatzes sexueller Gewalt als Kriegswaffe von einer „historischen, seit langem überfälligen Entscheidung“.
In der am Donnerstagabend einstimmig verabschiedeten Resolution 1820 fordert der Sicherheitsrat alle Kriegs- und Konfliktparteien auf, „sofort jede Form von sexueller Gewalt gegen Frauen und Mädchen vollständig einzustellen und Maßnahmen zu deren Schutz zu ergreifen.“ Der Rat behält sich „angemessene Maßnahmen“ zur „Prävention sexueller Gewalt“ vor, da diese Prävention „ein Beitrag zu internationalem Frieden und Sicherheit“ sei. Ausdrücklich weist der Rat darauf hin, dass „Vergewaltigungen und andere Formen sexueller Gewalt als Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschheit oder als Bestandteil von Völkermord geahndet werden können“. Damit kündigt der Rat zumindest indirekt an, mutmaßliche Täter künftig vor den für diese Verbrechen zuständigen Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag zu bringen.
DIE PRESSE Wien, 23. Juni 2008
„Frauen haben ein Recht auf ein Leben ohne Gewalt. Wir müssen Schwachen und Bedrohten eine weltweit hörbare Stimme geben“, bekräftigte heute Außenministerin Ursula Plassnik. Gemeinsam mit EU-Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner und den in Wien weilenden Außenministerinnen dreier europäischer Staaten unterzeichnete Plassnik den Appell des UNO-Entwicklungsfonds für Frauen (UNIFEM) „Sag nein zur Gewalt“.
Plassnik: „Die Wende im dritten Jahrtausend ist überfällig. Noch immer leben viel zu viele Menschen im dunklen Schatten physischer und psychischer Gewalt. Die weitaus häufigsten Opfer sind Frauen und Kinder.“ Die Außenministerin forderte mit Nachdruck: „Gewalt gegen Frauen darf von Opfern und Zeugen nicht hingenommen oder mit Schweigen übergangen werden. Es handelt sich nicht nur um eine der schlimmsten Menschenrechtsverletzungen sondern auch um eine Gefährdung von nachhaltiger und gleich berechtigter Entwicklung“.
„Leider ist Gewalt Alltag in allen Ländern, in allen Kulturen und in allen sozialen Schichten. Dieses Problem muss in seiner traurigen Vielschichtigkeit ernst genommen werden. Es muss ein Bewusstseinswandel auf breiter Ebene stattfinden. Grundlegend ist dafür die Erziehung. Ihre zentralen Botschaften müssen sein: Gewalt darf weder zur Demonstration von Macht noch zur Konfliktlösung eingesetzt werden schon gar nicht gegen Schwächere oder Abhängige“, so die Außenministerin (…)
„Dank der Initiative von US-Außenministerin Condoleezza Rice wurde Gewalt gegen Frauen in bewaffneten Konflikten vorige Woche zum zentralen Thema im höchsten UNO-Gremium. Die Vereinten Nationen bilden den wichtigsten Rahmen aller Bemühungen um ein Ende der Gewalt gegen Frauen. Die am Donnerstag einstimmig verabschiedete Resolution 1820 stellt einen klaren Fortschritt dar und ist eine Ergänzung zur Resolution 1325 aus dem Jahr 2000. Der Sicherheitsrat fordert ein sofortiges Ende der Gewalt gegen Frauen in Konflikten. Er weist in seiner neuen Entschließung aber auch darauf hin, dass Vergewaltigungen und andere Formen sexueller Gewalt als Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschheit oder als Bestandteil von Völkermord geahndet werden können.“
DER STANDARD, New York 21. Juni 2008
Der UN-Sicherheitsrat hat ein Ende der sexuellen Gewalt gegen Frauen und Mädchen bei bewaffneten Konflikten gefordert. In der am Donnerstag in New York einstimmig verabschiedeten Resolution 1820 forderte das UN-Gremium alle Kriegsparteien auf, „sofort jede Form von sexueller Gewalt gegen Zivilisten einzustellen und Maßnahmen zum Schutz zu ergreifen“.
UN-Generalsekretär Ban Ki-moon sagte, dass die Gewalt gegen Frauen in manchen Konflikten „unaussprechbare Ausmaße“ angenommen hat. Vergewaltigung wurde offiziell als „Kriegstaktik“ eingestuft. Konkret sei sexuelle Gewalt eine „Kriegstaktik, die dazu diene, zu erniedrigen, zu unterdrücken und ein Klima der Angst zu erzeugen und Zivilisten oder Mitglieder bestimmter ethnischer Gruppen gewaltsam zu vertreiben“. Die Resolution beschreibt den bewussten Einsatz von Vergewaltigung sogar als Bedrohung der internationalen Sicherheit.
Kriegsstrategie
Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen des Gegners gehörten in vielen Teilen der Welt zur Kriegsstrategie, betonte US-Außenministerin Condoleezza Rice, unter deren Leitung der UN-Rat tagte, da die USA turnusgemäß im Monat Juni den Vorsitz im UNO-Sicherheitsrat inne haben. Sie nannte als Beispiele die Demokratische Republik Kongo, die westsudanesische Krisenregion Darfur sowie Burma. „Vergewaltigung ist ein in keinem Fall entschuldbares Verbrechen“, betonte sie. Die Resolution werde einen Weg schaffen, um „diese Grausamkeiten“ ans Tageslicht zu bringen, so Rice.
„Wir haben eine ganz besondere Verantwortung, die Täter von sexueller Gewalt zu bestrafen“, so Rice.
Seit sich der UNO-Sicherheitsrat 2000 erstmals dieses Themas angenommen habe, hätten organisierte systematische Vergewaltigungen noch zugenommen, hieß es in einem von den USA vorbereiteten Dokument. So seien während des Konflikts in der Provinz Süd-Kivu im Kongo 32.000 Fälle von sexuellen Übergriffen gemeldet worden. Auch mehrere UNO-Soldaten wurden wegen Fehlverhaltens beschuldigt und entlassen.
China, Russland, Indonesien und Vietnam verliehen Bedenken Ausdruck, ob man Vergewaltigung wirklich zu einem Thema im Rahmen des Sicherheitsrat machen solle, stimmten der Resolution aber schließlich doch zu.
Internationales Strafgericht
Indirekt drohte der Sicherheitsrat damit, die Schuldigen vor das Internationale Strafgericht in Den Haag zu bringen – in seiner Entschließung weist er ausdrücklich darauf hin, dass Vergewaltigungen und andere Formen der sexuellen Gewalt als „Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Bestandteil des Völkermordes“ geahndet werden könnten. UN-Generalsekretär Ban Ki-moon wird zur Ausarbeitung eines Aktionsplans aufgefordert, um Informationen zu sammeln und den Rat zu informieren. Dieser kündigte an, er werde in Kürze eine/n Friedensbotschafter/in ernennen, deren/dessen Aufgabe es sei, sich für ein Ende der Gewalt gegen Frauen einzusetzen.
Verwendete Literatur:
Jürgen Ebach: Und dennoch: Die Last der Gewalt, Vortragsmanuskript, S. 9
Helene Schüngel-Straumann Die erste Frau in der Bibel – Verführerin oder Gottes Meisterwerk? in RU: 26. Jg. Hft 4 1996 (115-121)
Ilse Müllner: Die Samuelbücher, Frauen im Zentrum der Geschichte Israels in: Kompendium Feministische Bibelauslegung (Hg. Von L. Schottroff, M.T. Wacker) Gütersloh2 1998 S. 114-129, S. 121.
Ulrike Bail: Vernimm, GOTT, mein Gebet. Psalm 55 und Gewalt gegen Frauen in: Hedwig Jahnow u.a., Feministische Hermeneutik und erstes Testament, Analysen und Interpretationen, Stuttgart, Berlin 1994, S. 67-84
Ulrike Bail: Die Klage einer Frau. Zu sprechen gegen das Schweigen. Eine feministisch-sozialgeschichtliche Auslegung von Psalm 55 in: Junge Kirche. ZS für europäische Christinnen und Christen 3/96 57. Jahrgang März 1996 S. 154-157
Die Autorin:
Barbara Rauchwarter ist gebürtige Hamburgerin und hat in Österreich Evangelische Theologie und Germanistik studiert. Sie war viele Jahre im Religionsunterricht, in der LehrerInnenausbildung sowie in der Erwachsenenbildung tätig. Als Biblikerin fragt sie vermeintlich unabänderliche gesellschaftliche Gegebenheiten mithilfe der biblischen Verheißungen an und ermutigt zu einer „anderen möglichen Welt“. Buch zum Thema: Barbara Rauchwarter, Genug für alle. Biblische Ökonomie, Klagenfurt 2012