Bet Debora Journal III

ENGENDERING JEWISH POLITICS –

FRAUENPOLITIK FÜR EIN MODERNES JUDENTUM

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Deutsch, Englisch
Hentrich & Hentrich Verlag Berlin
15,00 €, ISBN 978-3-95565-131-2
Frühjahr 2016

 

Umschlagbild: Marion Kahnemann – Flaschenpost

 

 

 

 

Inhalt / Content

  • Prayer to Begin with – Rabbi Sylvia Rothschild

The Multiple Discovery of Regina Jonas / Die Wiederentdeckung von Regina Jonas

Feminism / Feminismus

Education /Bildung

Women and Politics / Frauen und Politik

Forgotten Victims / Vergessene Opfer

 

Gefördert von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, dem Zentralrat der Juden in Deutschland und der Half Empty Bookcase (Großbritannien)

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Inhaltsangaben

 

Flaschenpost – Marion Kahnemann

Marion Kahnemanns Hauptthema ist der Mensch, der “Andere”, den es wahrzunehmen, zu entdecken lohnt – der „Andere“ in seinen Möglichkeiten, Grenzen, Sehnsüchten – seiner Einsamkeit und seinen Brüchen. Vor allem die Brüche sind es, die sie am meisten interessieren.
Durch die Verwendung von Fundstücken, die von menschlichem Gebrauch geprägt sind, sich aber oft kaum noch auf ihren Ursprung zurückführen lassen, schafft sie Räume für freie Interpretationen, für die individuelle Sicht, sowohl für die eigene, als auch für die des Betrachters. Grundlage ihrer Arbeit ist es, das Staunen, dass sich hinter den Alltagsdingen verbirgt, zu suchen und ihnen ihren menschlichen Kontext wieder zu geben. Dabei lässt sie sich von landschaftlichen, aber auch von gebauten Strukturen anregen. Gespräche, Texte, Beobachtungen und Geschichten fließen mit ein. Das vor Ort gefundene Material gibt den Rahmen vor. www.mkahnemann.de/

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Das rätselhafte Verschwinden von Rabbi Regina Jonas – Von Rabbi Elli Tikvah Sarah
Dass es einmal eine deutsche Rabbinerin namens Regina Jonas gegeben hatte, die 1935 ordiniert worden war, erfuhren die Rabbinerinnen Großbritanniens offiziell erst in den frühen 1990er Jahren, als Dr. Hermann Simon, Direktor des Archivs der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum, dem Leo Baeck College in London ihre Ordinierungsurkunde sowie eine gerahmte Fotografie überreichte: Fräulein Rabbinerin Regina Jonas, Seelsorgerin, Predigerin und Lehrerin in der Berliner jüdischen Gemeinde und später im Ghetto Theresienstadt, die 1944 in Auschwitz ermordet wurde.
Zu meiner Überraschung gab es kaum Hinweise auf Regina Jonas in der Literatur. Nur Alexander Guttmann und Michael Meyer erwähnten sie beiläufig in ihren Arbeiten über die Kontroverse bezüglich der Ordinierung von Frauen am Hebrew Union College.
Es drängt sich auch die Frage nach den führenden jüdischen Persönlichkeiten auf, die Regina Jonas gekannt und selbst die Shoah überlebten hatten – zum Beispiel Leo Baeck, ihr Lehrer an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, oder der Psychotherapeut und Erfinder der Logotherapie Viktor Frankl, mit dem sie in Theresienstadt zusammengearbeitet hatte. Soweit mir bekannt ist, erwähnten sie sie mit keinem Wort. Und wenn Rabbiner Leo Baeck doch von ihr gesprochen haben sollte, hat die Information, dass eine seiner Studentinnen an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums später die Semichah erhalten hatte, offensichtlich nicht die Neugier der ersten Nachkriegsgeneration progressiver Rabbiner in Europa geweckt.
Erst in den letzten 25 Jahren begann man sich der Geschichte von Regina Jonas zu erinnern, sodass ihr Leben und Wirken nun langsam Anerkennung findet. Ausschlaggebend dafür ist das zunehmende Auftreten von Rabbinerinnen als Kollektiv sowie die verstärkte Auseinandersetzung mit jüdischen Frauen in der Wissenschaft und im Film. Wir sind insbesondere Rabbinerin Dr. Elisa Klapheck für ihre Biographie von Regina Jonas und Diana Groó für ihren Film „Regina“ zu Dank verpflichtet.

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Regina Jonas: Die Wanderdünen der Erinnerung – Gail Twersky Reimer

Der Feminismus beschäftigt sich schon lange mit der Frage, woran (und an wen) wir uns erinnern und was wir vergessen. Ebenso wichtig ist die verwandte Frage, wie wir uns erinnern. In diesem Artikel beschäftige ich mich mit diesen Fragen in Bezug auf Regina Jonas – 1935 die erste Frau der modernen Geschichte, die zur Rabbinerin ordiniert wurde.
Der entscheidende Wendepunkt in der Wiederbelebung der Erinnerung an Jonas war der Fall der Berliner Mauer und damit die Öffnung des Staatsarchivs der ehemaligen DDR. 1992 veröffentlichte die deutsch-amerikanische Professorin Katharina von Kellenbach einen Artikel über Rabbinerin Regina Jonas in der deutschen feministischen Zeitschrift „Schlangenbrut“. Zwei Jahre später kam ein zweiter Aufsatz, diesmal auf Englisch, im Jahrbuch des Londoner Leo Baeck Instituts heraus. Auf der Suche nach einer Vergangenheit, die als Fundament für die lebendige Zukunft jüdischer Frauen in Deutschland und ganz Europa dienen konnte, knüpften jüdische Feministinnen wie Elisa Klapheck und Lara Dämmig, zwei der Gründerinnen von Bet Debora, an die vergessene Geschichte Regina Jonas‘ an. Kellenbachs Entdeckung im Archiv lieferte ihnen die Geschichte, die sie brauchten.
Die Rezeption und Weitergabe der Informationen über Regina Jonas in Amerika war deutlich anders. Zwanzig Jahre vor der Entdeckung des Jonas-Archivs bereitete sich Sally Priesand auf die Ordinierung zur Rabbinerin am Hebrew Union College (HUC) in Cincinnati, Ohio, vor. Priesand erfuhr von Regina Jonas und erwähnte sie in ihrer Dissertation, die unter dem Titel „Judaism and the New Woman“ („Judentum und die neue Frau“) als Buch herauskam. Sie schloss den kurzen Abschnitt über Jonas jedoch mit der Feststellung: „Ich war somit tatsächlich die zweite Rabbinerin, aber die erste, die an einem theologischen Seminar ordiniert wurde.“ Diese zwei Einschränkungen bezüglich Priesands Ordinierung, “in Amerika” und “an einem Seminar”, wurden in der Folge von Wissenschaftlerinnen wie Pamela Nadell und anderen, die über Regina Jonas schrieben und sie in die Kategorie der „möchte-gern Rabbinerinnen“ einordneten, aufgegriffen. Als 2014 in Amerika endlich beschlossen wurde, an Jonas zu erinnern, wurde ihr eine Gedenktafel in jenem Konzentrationslager gewidmet, in dem sie vor ihrem Abtransport und der Ermordung in Auschwitz interniert war. Mit der Ehrung und Erinnerung an sie in Theresienstadt wurde Regina Jonas‘ Geschichte in die amerikanische Darstellung assimiliert. Europa bleibt der Ort der Tragödie und des Traumas, Amerika hingegen das Land des Neuanfangs, der Freiheit und der Chancen, das Land, wo Frauen zuerst ordiniert wurden und wo ihr Eintreten in den Rabbinerstand das Judentum und das jüdische Leben weiterhin verändert.

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„Mir war nie darum zu tun, die Erste zu sein“. Das Vermächtnis von Rabbinerin Regina Jonas – Rabbinerin Elisa Klapheck

Das Leben und Wirken der ersten Rabbinerin, Regina Jonas (Berlin 1902 – Auschwitz 1944), fiel auf tragische Weise mit dem NS-Regime zusammen. Jonas hatte sich jedoch bewusst entschieden, nicht zu emigrieren. Sie blieb damit bis zuletzt im Kontext des deutschen Judentums – eines Judentums, das auch unter fürchterlichster Bedrängnis weiterhin seine religiöse Modernität trug. Dazu gehörte die Emanzipation der Frau bis hin zu einer Frau als Rabbinerin. Jonas sah in der Gleichberechtigung der Frau die logische Konsequenz einer religiösen Argumentation, bei der die Mizwot vor allem im Rahmen einer Pflichtenethik zu verstehen sind. Dieses Verständnis spricht aus Jonas 1930 eingereichter halachischer Abschlussarbeit „Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden?“ Sie mündete in die Feststellung, dass es nach den jüdischen Gesetzen erlaubt sei, Frauen als Rabbinerin zu ordinieren. Gegenüber einer Journalistin betonte Jonas: „Fähigkeiten und Berufungen hat Gott in unsere Brust gesenkt und nicht nach dem Geschlecht gefragt. So hat ein jeder die Pflicht, ob Mann oder Frau, nach den Gaben, die Gott ihm schenkte, zu wirken und zu schaffen.“
Jonas blieben, nachdem sie 1935 Rabbinerin geworden war, nur wenige Jahre um rabbinisch zu wirken. Trotz Zwangsarbeit ab 1941 in der Berliner Kartonagenfabrik Epeco und ihrer Deportation nach Theresienstadt 1942 predigte sie weiterhin die Gleichberechtigung der Geschlechter als eine religiös gebotene Pflicht. Damit hinterließ sie ein geistiges Vermächtnis über den Abgrund der Schoa hinaus, das gerade heute einen Beitrag zur Auseinandersetzung zwischen dem religiösen und dem politischen Feminismus leistet. Es geht um die Beziehung zwischen religiösen Pflichten und politischen Rechten. Diesen Beitrag zu würden, das heißt ihn sowohl im damaligen Kontext der jüdischen Frauenbewegung zu verstehen, als auch seine Bedeutung für den gegenwärtigen jüdisch-feministischen Diskurs zu erschließen, ist ein wichtiger Akt gegen den Sog, in den die Erinnerung an die erste Rabbinerin leicht zu geraten droht: Sie entweder auf das Podest der „Ersten“ zu stellen und sie damit historisch zu isolieren – oder ihr Leben vor allem im Drama der Schoa zu erzählen und damit die Geschichte ihrer Ermordung über das eigentliche Vermächtnis zu stellen, das Regina Jonas ihren Nachfolgerinnen und Nachfolgern hinterließ.

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Jackie Tabick – die erste Rabbinerin in Großbritannien – Louise Heilbronn

Als Rabbinerin Dr. Jackie Tabick nach 40 Jahren im englischen progressiven Rabbinat auf die Pension zuging, schien ein Rückblick über ihre Laufbahn angebracht. Man war die längste Zeit davon ausgegangen, dass sie die erste progressive Rabbinerin in Europa war. Mittlerweile ist jedoch bekannt, dass vor ihr bereits Rabbinerin Regina Jonas im Jahr 1935 ordiniert worden war, was bis in die 1990er Jahre in Vergessenheit geraten war.
Rabbi Tabicks Weg zum Rabbineramt und ihr Ringen um Anerkennung sind interessant und faszinierend. Sie wurde zu einer Zeit ordiniert, als Frauen auf der Suche nach einer Rolle im Leben allgemein, und im Berufsleben im Besonderen, waren.
Dieser Artikel beschäftigt sich mit Rabbinerin Tabicks Vorbildern, ihrer Laufbahn und dem Einfluss, den sie auf die progressive Bewegung hatte und heute noch hat. Sie ist selbst zu einem Vorbild geworden und zeigt anderen Frauen, dass alles möglich ist. Über Rabbi Tabicks Überlegungen, was aus dem Judentum werden könnte, blickt der Artikel auch in die Zukunft.

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Der Wandel der Rolle der Frau in der jüdischen Welt und sein Niederschlag in der Liturgie – Rabbinerin Dalia Marx und Rabbinerin Sylvia Rothschild

Frauen haben immer gebetet und die Bibel berichtet von vielen Gebeten von Frauen. Über die Jahrhunderte hinweg wurden Frauengebete auch aufgezeichnet und für andere Frauen gesammelt. Trotzdem ist das Gebetbuch für die gewöhnlichen Gottesdienste fast völlig taub gegenüber den Stimmen der Frauen oder Gebeten, die Frauenprobleme behandeln. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begann sich eine Veränderung abzuzeichnen und die Geschwindigkeit, mit der sie voranschreitet, ist faszinierend. Es werden mittlerweile Siddurim gedruckt, die geschlechtsneutrale Formulierungen verwenden, die Matriarchinnen und andere weibliche Figuren aufgenommen haben, sowie integrative und geschlechtlich ausgewogene Metaphern für Gott beinhalten. Gleichzeitig haben die Frauen begonnen, alte Rituale für sich in Anspruch zu nehmen und anzupassen, und neue Rituale und Möglichkeiten zu schaffen und zu gestalten, um in der Liturgie wichtige Ereignisse in ihrem Leben zu begehen.
In diesem Artikel sehen wir uns einige der Innovationen an, die so entstanden sind und Auswirkungen auf die Siddurim und Machsorim der offeneren und aufgeschlosseneren Strömungen des Judentums haben. Es handelt sich dabei um einen laufenden, dynamischen Prozess und trotz der Geschwindigkeit der Veränderungen in jüngster Zeit, oder vielleicht gerade deshalb, bedeutet die Unterschiedlichkeit der Reaktionen auf die Rolle der Frau in der Liturgie, dass eine Vielfalt von Ideen nebeneinander existiert oder miteinander in Austausch steht.
Die Herausforderungen in der Auseinandersetzung zwischen der modernen Welt und der Tradition sind in diesem Bereich besonders deutlich. Da es außerdem zahllose Strömungen im Judentum gibt, die sich diesem Thema stellen, ist es nicht verwunderlich, dass kein echter Konsens darüber besteht, wie Frauen in den Gebetsbüchern vorkommen und ihren Platz finden sollen. Das macht unsere Zeit spannend und kreativ, weil jede Gruppe und jede/r Einzelne hier an unterschiedlichen Stellen Neuland betritt. Nostalgie und Gewohnheiten konkurrieren mit Integration in Sprache und Inhalt, und das Wesen der hebräischen Sprache macht die Mischung noch pikanter. Aber die Liturgie ist seit jeher ein dynamisches, widerborstiges und unsystematisches Gebilde, und die Aufnahme der Stimmen der Frauen in die Debatte und das Entstehen von Gebeten und Ritualen erweist sich als große Herausforderung und als eine Kraft, mit der die zweitausend Jahre alte Tradition der kontinuierlichen Aktualisierung und Erneuerung des Prozesses fortgesetzt wird.

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Von der Rebbetzin zur Maharat – Interview von Monika Konigorski mit Dina Brawer

Vor 18 Jahren wurde JOFA (Jewish Orthodox Feminist Alliance – Jüdisch-Orthodoxe Feministische Allianz) in den USA gegründet, um die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in der religiösen Sphäre zu fördern. Inzwischen gibt es JOFA auch in Großbritannien, dank der Initiative von Dina Brawer, die gerade eine Ausbildung zur Rabbinerin absolviert. JOFA bietet eine Plattform für Diskussionen zu den spezifischen Themen, die Frauen in den Gemeinden bewegen. Frauen sollen motiviert werden, Talmud und halachische Texte zu studieren, um die Entwicklung des jüdischen Rechts und der Traditionen und die Rechte und Pflichten von Frauen, die sich oft nicht von denen der Männer unterscheiden, besser zu verstehen. Dass Frauen religiöse Führungspositionen bekleiden, ist heute für die ganze Gemeinde wichtig, denn Frauenstimmen bereichern das Torahstudium und die Interpretation der Traditionen. Der Wunsch, selbst Rabbinerin zu werden, entsprang bei Brawer aus ihrer Leidenschaft für die Orthodoxie, aus dem Bedürfnis, der Gemeinde zu dienen, um die Menschen dort zu fördern. Als Rabbinerin möchte sie lehren, anleiten und inspirieren, durch sich die Torah und die Mitzvwot weiterzuentwickeln. Sie möchte die Möglichkeiten für Frauen im Rahmen der Halachah erweitern. Der Zugang zu Torah und den Mitzwot bietet spirituelle Erfahrungen, die uns mit anderen Jüdinnen und Juden, mit der Gesellschaft und mit Gott verbinden.

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Versammlungszelte bauen: jüdischer Feminismus, Praktizieren von LGBTQIQ und Regenbogenjudentum – Rabbinerin Elli Tikvah Sarah

Seit den 1990er Jahren sind die Bewegungen der Emanzipation der Frau, des lesbischen Separatismus und der Emanzipation der Schwulen, die sich auf Identitätspolitik konzentriert hatten, gegenüber der Regenbogenallianz der LGBTQ (lesbischen, schwulen, bisexuellen, transsexuellen und queeren) Menschen – jüngst noch erweitert um „I“ (intersexuell) und ein weiteres „Q“ („questioning“) – in den Hintergrund getreten. Diese steht für eine Vielfalt an diversen Sexualitäten, Ausrichtungen und Geschlechtern, die monolithische Denkweisen und Praktiken in Frage stellen.
Ausgehend von meinen Erfahrungen als lesbische Separatistin, die sich auf eine Entdeckungsreise in das jüdische Leben begeben hat, vertrete ich in diesem Aufsatz den Standpunkt, dass es sich bei den Herausforderungen in unserem Leben nicht darum dreht, wer wir sind, sondern was wir – gemeinsam mit anderen – tun und wohin wir uns bewegen.
Die Betonung des Tuns anstelle des Seins ist ein zentrales Anliegen der jüdischen Lehre. Schon die allererste Lektion der Thora, die Erzählung von der Erschaffung der Welt in Bereschit/Genesis, betont die Bedeutung des Tuns. Die Thora macht auch deutlich, dass Menschsein heißt, den göttlichen Architekten der Welt zu imitieren und sich somit dem Tun zu widmen. Martin Buber verwies auf die Parallelen zwischen dem Schöpfungsbericht und dem Bericht über den Bau des Mischkan (Exodus 25-40), des aufwendigen Stiftzelts, das die ehemaligen Sklaven in der Wildnis errichteten.
Die Bedeutung dieses Baus des Mischkan in der Wildnis wird auch in der Lehre des französischen jüdischen Philosophen Emmanuel Levinas unterstrichen, der bestreitet, dass es ein substantielles Selbst überhaupt gibt. Die Bedeutung des Selbst entsteht nur in Beziehung zu dem Anderen, für den wir Verantwortung tragen. Diese Verantwortung drücken wir in unserem Tun aus, indem wir aktiv mit anderen in Beziehung treten. Was Menschen gemeinsam haben, wenn wir miteinander sind, ist nicht unsere Identität und unser Sein, sondern die Beziehung, die wir schaffen. Wie die ehemaligen Sklaven in der Wildnis schaffen wir Menschen Verbindungen und Gemeinschaften, indem wir durch unsere individuellen Gaben zu gemeinsamen Unternehmungen beitragen.
Interessanter Weise findet die jüdische Betonung des Tuns auch in der Gender- und Queertheorie, den postmodernen Formen der feministischen Theorie und des Schwulendiskurses, die in den 1990er Jahren entstanden, ein Echo. Die Gender- und Queertheorie versteht das Geschlecht als soziales Konstrukt und betrachtet „Identitäten“ nicht als essentiell und fix, sondern meint, dass sich wer wir sind in dem ausdrückt, was wir tun. In diesem Artikel untersuche ich, wie die jüdische Betonung auf dem Tun ein kreatives Zusammenspiel zwischen jüdischem Leben, Feminismus und der Praktizierung von LGBTQIQ ermöglicht. Ich behaupte, dass der „Regenbogen“ uns alle umspannt – LGBTQIQ+ – wenn wir die starren, einzelnen Identitätsbegriffe, die uns behindern, aufgeben und uns am Bau der Versammlungszelte beteiligen. So schaffen wir – wir alle gemeinsam – das Regenbogenjudentum: jüdisches Leben, das Vielfalt zulässt, dynamisch und integrativ ist.

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Zum erkenntnistheoretischen Privileg feministisch-jüdischer Perspektiven – Hannah Peaceman

Bis heute werden die Stimmen jüdischer Frauen nicht immer gehört und spielen in der Mehrheit jüdischer Kontexte, insbesondere in Deutschland, eine marginalisierte Rolle. Die Mehrheit der Gemeinden zählt Frauen nicht zum Minjan. In den Vorständen größerer jüdischer Organisationen sind in den meisten Fällen Männer überrepräsentiert. Trotz verschiedener feministisch-jüdischer Organisationen, trotz der Forderung nach Gendergerechtigkeit in großen Teilen der Welt ist die Benachteiligung von Frauen in jüdischen Kontexten Status quo. In diesem Aufsatz geht es um die Perspektiven jüdischer Frauen heute, insbesondere im deutschen Kontext. Spezifischer wird nach der erkenntnistheoretischen Basis von Perspektiven von Frauen gefragt. Ziel ist, sowohl
erkenntnistheoretisch als auch politisch eine starke Begründung für Forderungen
nach Gendergerechtigkeit in jüdischen Kontexten zu erarbeiten.  Die These ist, dass jüdische Frauen als marginalisiertes Gender in jüdischen Kontexten eine erkenntnistheoretisch privilegierte Sichtweise auf Gesellschaft  entwickeln können. Die Erfahrung der Benachteiligung ermöglicht jüdischen Frauen,  die Dysfunktionalitäten sozialer Strukturen aufzudecken, die sie durch ihre Lebenswelt erfahren.  Die Anerkennung der Perspektiven jüdischer Frauen sowie ihre Anerkennung als gleich(berechtigt) würde insgesamt die jüdische Gemeinschaft stärken, weil dadurch
eine inklusivere und eine lebenswertere soziale Lebenswelt in jüdischen Kontexten
geschaffen werden könnte.

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Zen Cohens / Die Töchter – S.L. Wisenberg

Ein Zen koan (sprich: ko-an) ist ein kurzes, hintergründiges Rätsel/Paradox bzw. ein Satz aus der Zen-buddhistischen Meditationspraxis. Es gibt auch jüdische Zen-Parodien, die jemand mit dem Begriff “Zen Cohen” beschrieb. Diese Zen Cohens habe ich für die Bet Debora Tagung 2015 als Anregung für Diskussionen geschrieben. Ich ließ mich dabei von dem Tagungsthema, Frauen und Macht, und meinen Eindrücken von den Tagungen in den Jahren 2009 und 2012 inspirieren.

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Genderbewusstsein und jüdische Erziehung: Veränderungen in Tradition und Gottesbild – Felicia Epstein

Einige der Fragen, die ich in diesem Artikel behandeln möchte, sind folgende:

Welche geschlechtsspezifische Stereotypen bestehen derzeit im Kontext der jüdischen Erziehung?
Was für Auswirkungen haben diese Stereotypen auf das Selbstbild von Mädchen und Frauen?
Wie beeinflusst es die Wahrnehmung von Mädchen durch die Jungen, da diese ja hauptsächlich von Bildern aus den Medien geprägt ist?
Wie könnten diese Stereotypen in Frage gestellt werden?
Können wir die Tradition gebührlich bzw. authentisch hochhalten und gleichzeitig zeitgemäß leben?
Wie würde ein Frauen und Mädchen stärker einschließender Ansatz aussehen?
Welche Beziehung und welchen Zugang haben wir zu den weiblichen Figuren in unserer Tradition?
Ist Miriam Mosches Schwester oder ist sie Prophetin und Führungspersönlichkeit?
Haben die Hebammen Schifra und Pua das jüdische Volk möglich gemacht oder sind sie, wie im Traktat Sota des Talmud dargestellt, der Grund, weshalb das jüdische Volk aus Ägypten errettet wurde?

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Literatur für jüdische Kinder – Anna Makówka-Kwapisiewicz
Märchen sind von unschätzbaren Wert, um einem Kind die eigene Kultur nahezubringen und ein Gefühl der Zugehörigkeit zu vermitteln. Wenn sie die geistigen Werte einer nationalen Kultur enthalten, kann das Kind dadurch sein Volk kennenlernen. Bücher mit kurzen Versen für Kinder sind gut geeignet, diese Aufgabe zu erfüllen. Märchen in Reimen und interessante farbige Bilder sind die besten Mittel, um auch die kleinsten Kinder anzusprechen. Auf diese Weise können die wichtigsten Elemente der jüdischen Tradition das Kind unmittelbar erreichen. Sie machen mit der Kultur und dem Reichtum der eigenen Tradition vertraut, dabei vermitteln sie aber vor allem universelle Werte. Das Vorlesen von Versen, die Beschreibung eines Bildes kann für die Eltern ein Mittel sein, die jüdische Identität ihres Kindes zu entwickeln. Eine attraktive grafische Gestaltung eines Buches, das von rechts nach links zu öffnen ist, kann die Neugier des Kindes auf das hebräische Alphabet wecken. Für viele Familien wird das der erste Kontakt mit einem anderen als dem lateinischen Alphabet sein. Das Kennenlernen der eigenen Geschichte durch die Welt der Märchen kann dem Kind das Gefühl der Verwurzelung in der jüdischen Kultur vermitteln, den Sinn und die Achtung deren Werte und Errungenschaften.

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Shulamit Alonis Judentum – Shulamit Reinharz

Schulamit Aloni war eine große Israelin, die Gefahr läuft, aufgrund von Änderungen in den Einstellungen der israelischen Gesellschaft in Vergessenheit zu geraten. Als Schulamit Aloni 2014 im Sterben lag, wünschte sie sich ein Begräbnis, das sowohl traditionell religiöse als auch säkulare Aspekte haben sollte. Ich betrachte diese Kombination als Ausdruck ihrer Liebe zum Judentum und zum Säkularismus, und gleichzeitig ihrer Ablehnung des religiösen Establishments. Mitglieder der Humanistic Judaism Society in den USA anerkannten Alonis Errungenschaften und verliehen ihr 1980 einen Preis. Ihr Aufruf, der religiösen Obrigkeit ihre politische Macht zu nehmen, ist immer noch relevant. Ihr Kampf um die Rechte der Einzelnen war seinerzeit zwar radikal, ist heute jedoch viel weiter akzeptiert. Für ihren Mut bezüglich diesem und vielen anderen Anliegen verdient sie, in Erinnerung gehalten zu bleiben.

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„Women of the Wall“ oder Von der gesellschaftsverändernden Kraft des Gebets – Ulrike Offenberg

Seit der Gründung von „Women of the Wall“ vor 27 Jahren wird eine hochpolitische Auseinandersetzung darüber geführt, wer? was? wie? wo? und warum? an der Restmauer des Jerusalemer Tempels beten darf. Widerstände und Einwände kommen von allen Seiten: Im orthodoxen Judentum hat ein gemeinschaftliches und öffentliches Gebet von Frauen, in welcher Form auch immer, bis heute kaum einen Platz. Um so mehr wird es an der Kotel für problematisch erachtet, die nach der Befreiung der Altstadt 1967 in ein Art ultraorthodoxer Synagoge mit strenger räumlicher Trennung zwischen Männern und Frauen umgestaltet wurde. Die Frauenabteilung, die nur etwa ein Drittel der Fläche der Männerabteilung misst, ist ausschließlich für privates, persönliches Gebet bestimmt, während die Seite jenseits der Mechitzah komplett für gemeinschaftliches Gebet ausgerüstet ist.
Als sich etwa hundert Frauen für den 1. Dezember 1988 zu einem gemeinschaftlichen Gebet an der Kotel verabredeten, war nicht abzusehen, welchen Gegenwind ein solches Begehren auslösen würde. Es war Rosch Chodesch, der Neumondstag des Monats Kislev, und der Versuch, einen Frauengottesdienst an der Kotel durchzuführen, wurde sofort mit massiver physischer und verbaler Gewalt von Seiten ultraorthodoxer Männer und Frauen beantwortet. Die Polizei griff nicht ein, denn für sie stellte ein gemeinschaftliches Frauengebet „kein öffentliches Interesse“ dar. Daher beschlossen die Frauen, sich von nun an regelmäßig zu Rosch Chodesch an der Kotel zu treffen, und dieses Anliegen zu einem öffentlichen Interesse zu machen. Die Initiative „Women of the Wall“ – auf Hebräisch

נשות הכותל war geboren.
Gleich nach der massiven, gewalttätigen Behinderung ihrer ersten Gebete wandten sie sich 1989 mit einer Klage an das Oberste Gericht, die verlangte, dass ihnen freier Zugang zur Kotel gewährt wird und sie dort in Sicherheit und geschützt gegen physische und verbale Übergriffe ihr Recht auf freie Religionsausübung wahrnehmen können. Eine vorläufige Wende bedeutete das Urteil des Jerusalemer Bezirksgericht vom April 2013, das bestätigte, dass Frauen, die an der Kotel einen Tallit tragen, nicht gegen den Brauch dieses Ortes verstießen oder ein öffentliches Ärgernis verursachen würden. Das Verhalten der Polizei wandte sich buchstäblich um 180 Grad: Während zuvor die Frauen als Störenfriede betrachtet worden waren, standen nun Polizisten und Polizistinnen wie ein Kordon zwischen ihnen und den schimpfenden Ultraorthodoxen, um sie vor Übergriffen zu schützen.

Und auch die israelische Gesellschaft erkennt die Problematik der Übertragung religiöser Stätten und Symbole an das ultraorthodoxe Oberrabbinat und die damit einhergehende Verdrängung von Frauen aus öffentlichen Bereichen. Da an der Kotel nicht nur Gottesdienste, sondern auch staatliche Zeremonien (u.a. Vereidigungen von Soldaten und Soldatinnen, Gedenkveranstaltungen zu Jom Hashoah, zum Unabhängigkeitstag und zu Jom Jeruschalajim) stattfinden, kollidieren dabei ultraorthodoxe Geschlechtervorstellungen und modernes, auf Demokratie und Gleichberechtigung beruhendes Staatsverständnis miteinander. Ein Regierungsbeschluss vom 31. Januar 2016 verabschiedete einen Kompromiss, wonach südlich der bisherigen Kotel eine neue Gebetsplattform mit gleichberechtigtem Zugang geschaffen werden und dieses Areal von einem Gremium unter Beteiligung von Regierung, Jewish Agency, Konservativer und Reformbewegung und den „Women of the Wall“ stehen soll. Es macht deutlich, dass die Forderung nach religiösem Pluralismus allmählich in der israelischen Gesellschaft und Politik ankommt.

Man darf es wohl zu den modernen Chanukkahwundern rechnen, dass eine die verschiedenen religiösen Strömungen übergreifende Initiative von Frauen seit mittlerweile 27 Jahren Bestand hat und ihre Gottesdienste es geschafft haben, gesellschaftsverändernd zu wirken.

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Jüdische Politik, Frauenpolitik und Politik im Allgemeinen: Die Erfahrungen des Projekts Kesher – Svetlana Yakimenko

Seit 1989 hat das Projekt Kesher daran gearbeitet, Frauen zusammenzubringen, ein Netzwerk von Jüdinnen zu schaffen, Frauen, welche nichts oder nur wenig darüber wussten, was es bedeutet Jüdin zu sein, nicht nur zu helfen es zu werden, sondern auch ein jüdisches Gemeindeleben in Russland, der Ukraine, Belarus, Georgien und Moldawien zu schaffen und zu stärken. Wir sprachen über unsere Erfolge und analysierten die Veränderungen. Wir spürten, dass wir ein Volk waren.
Aufgrund der derzeitigen politischen Krisen verloren wir jedoch unsere Vision, ein jüdisches Volk zu sein; wir sind uneins geworden. Es war klar, dass das Projekt Kesher etwas tun musste. Wir begannen mit internationalen Skype-Gesprächen. Jeden Abend rief eine Frau aus Russland, eine aus der Ukraine, eine aus Belarus, eine aus Israel eine Frau in einem anderen Land an. Wir unterhielten uns, gaben einander Unterstützung und Fürsorge, wünschten einander Frieden. Als die Frauen begannen, einander wieder anzurufen und unterbrochene Beziehungen wieder herzustellen, sahen wir, dass „KESHER“ – die Verbindung – immer noch funktioniert.
Eines Tages, als es zu einem ernsten militärischen Zwischenfall in ihrer Heimatregion gekommen war, schlug eine unserer Frauen vor, Tehilim (Psalmen) als Gebete für den Frieden zu lesen. Bald lasen über hundert Frauen Psalmen und bildeten eine Friedenskette. Dieser Geist des Friedens überstand auch zu einer Zeit, als Krieg in der Luft lag.
In Russland gibt es Flüchtlingsfamilien aus verschiedenen Regionen der Ukraine. Manche habe alles verloren. Frauengruppen aus dem Projekt Kesher sammelten gemeinsam mit anderen jüdischen Organisationen Kleidung, Schuhe, sowie Schultaschen, Schulbücher, Hefte, Buntpapier, Karton, Plastilin, Buntstifte, Malfarben und Filzstifte für Flüchtlingskinder. Aktivisten des Projekts Kesher beteiligten sich auch aktiv an der Organisation von Lagern für Flüchtlinge in Charkiw und der Region von Dnipropetrowsk in der Ukraine.
In Konfliktzeiten ist der Wunsch, in Frieden zu leben, allein noch nicht genug. Die Frauen benötigten Mittel zur Konfliktlösung. Projekt Kesher entwickelte daher ein einzigartiges Schulungsprogramm für Frauen in leitenden Funktionen, um es den Teilnehmerinnen zu ermöglichen, selbst in den jüdischen Gemeinden und Partnerorganisationen Schulungen in Konfliktlösung abzuhalten und als Mediatorinnen tätig zu sein. Diese Schulungen bauen oft auf der jüdischen Tradition und dem Studium jüdischer Texte auf.
Ein besonderes Ereignis ist der Weltfrauen-Seder des Projekts Kesher, der 2015 zum 21. Mal gefeiert wurde. Beeindruckende 2500 Mitglieder aus 140 Frauen- und Jugendgruppen des Projekts in 110 Städten und fünf Ländern – Belarus, Georgien, Israel, Russland und der Ukraine – nahmen dieses Jahr daran teil. Die Teilnehmerinnen sprachen über Frieden und erklärten, dass sie alles tun wollten, um den Frieden in ihren Familien und in der Gesellschaft zu erhalten. Projekt Kesher initiiert mit der Energie, die es freisetzt, weiterhin positive Veränderungen.

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Das Religiöse und das Politische bei Margarete Susman – Rabbinerin Elisa Klapheck

Die Philosophin Margarete Susman (Hamburg 1872 – Zürich 1966) ist in einer Reihe zu nennen mit Georg Simmel, Martin Buber, Ernst Bloch, Gustav Landauer, Franz Rosenzweig oder Paul Celan. Als Vordenkerin der jüdischen Renaissance und des säkularen Messianismus hat sie den jüdischen Diskurs in Deutschland mitgeprägt. Ihre Gedanken zur geistigen Bedeutung des Judentums für Europa, über die Revolution, die Frauenemanzipation, das Verhältnis von Religion und Staat und nicht zuletzt über die Beziehung zwischen Judentum und Christentum enthalten wichtige Anstöße auch für heutige Diskussionen.
Ein Schlüsselbegriff in Susmans Werk ist das „Gesetz Gottes“. Susman entfaltete ihn erstmals in ihrem 1913 veröffentlichten Aufsatz Spinoza und das jüdische Weltgefühl. Dieser bildete den Ausgangspunkt für ein religiöses und zugleich säkulares Verständnis des Judentums. Susman zeichnete darin den auf Gesetze fixierten, philosophischen Erkenntnismodus Spinozas als ein Gesetzesdenken nach, das seinen Ursprung in der jüdischen Religion als dem geoffenbarten „Gesetz Gottes“ habe.
In den nachfolgenden Aufsätzen über das Judentum, von denen viele in der Frankfurter Zeitung, der liberaljüdischen Zeitschrift Der Morgen sowie in Bubers Der Jude erschienen, interpretierte Susman das „göttliche Gesetz“ weniger repressiv: als Instrument zur Erzwingung von Gehorsam, sondern zunehmend politisch: als ein Vehikel zur Befreiung von Unterdrückung und damit zugleich religiös: als (er-)lösende Methode auf eine bessere, messianische Zukunft hin. Als Anhängerin der Novemberrevolution sah Susman in ihrem 1919 erschienenen Pamphlet Die Revolution und die Juden eine revolutionäre und damit zugleich religiöse Mitverantwortung der Juden für die gesellschaftliche Neugestaltung des darniederliegenden Deutschlands. Unter Revolution verstand Susman die Verwirklichung des jüdisch-religiösen Konzeptes der Sühne – der Teschuwa. Das hieß, „Sühne“ nicht christlich als „Strafe“ verstanden, sondern jüdisch als „Umkehr“, als eine positive Möglichkeit – als revolutionäre Umkehr, verwirklicht durch läuterndes, sühnendes Wandeln und Neugestalten der politischen Gegenwart.
Ende 1933 verließ Susman Deutschland und emigrierte in die Schweiz. Bis zu ihrem Tod betrat sie nicht mehr deutschen Boden. In Zürich, wo sie fortan wohnte, engagierte sie sich für den religiösen Sozialismus des protestantischen Pfarrers Leonhard Ragaz. Für seine Zeitschrift Neue Wege schrieb sie weiterhin große religionsphilosophische Aufsätze. Während des Zweiten Weltkrieges entstand außerdem das Buch, das viele für Susmans Hauptwerk halten – Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes, ein 1946 erschienener, erster Versuch einer religiösen Sinndeutung der Schoa. Susman hinterließ ein Werk von 17 Büchern und rund 250 Aufsätzen und Artikeln. Es enthält viele geistige Stränge und Gesichtspunkte unter denen man Susman ebenfalls rezipieren könnte. Besonders kühn aber bleiben auch heute ihre jüdischen Schriften, weil sie darin eine menschheitliche Sicht entfaltete, die ohne das Judentum nicht auskommt.

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Der vergessene Holocaust? Erinnern an den Genozid an den europäischen Roma –  Joanna Talewicz-Kwiatkowska

In seiner Entschließung vom 15. April 2015, in welcher der 2. August zum Tag des Gedenkens an Roma Opfer des Holocaust erklärt wurde, betont das Europäische Parlament seine Sorge über den Anstieg des Antiziganismus. Es ruft daher zu Maßnahmen auf, um den Diskriminierungen, Hassreden und Verbrechen gegen die Roma ein Ende zu setzen. Bereits vier Jahre davor, im Jahr 2011, hatte das polnische Parlament den 2. August zum Gedenktag an den Roma und Sinti Holocaust erklärt. Diese bedeutenden Initiativen zeigen, dass der Völkermord an den Roma heute kein vergessenes Blatt in der Geschichte mehr ist, sondern von wichtigen nationalen und internationalen Institutionen anerkannt wird. Das bedeutet jedoch nicht, dass bezüglich des Gedenkens an die Ermordung der Roma und Sinti bereits alles Nötige getan worden ist. Der Prozess, der von der Gemeinschaft der Roma schon vor Jahrzehnten begonnen worden ist, ist langwierig. Der Weg ist bis dato nicht einfach gewesen und es liegen noch vielfältige Aufgaben vor uns. Trotz der Bemühungen und zahlreichen Initiativen der Roma-Gemeinschaften sowie der Unterstützung durch nationale und internationale Institutionen, herrscht in vielen Ländern noch die Meinung, dass das Gedenken an den Völkermord an den Roma und die Wissensvermittlung über ihre Geschichte, einschließlich der dunklen Periode des Zweiten Weltkriegs, die alleinige Verantwortung ihrer eigenen Gemeinden sei.
Aber soll das wirklich so sein? Sollte es nicht vielmehr die Verantwortung von uns allen als EuropäerInnen und als Menschen sein? Die Geschichte der Roma ist ein integraler Bestandteil der europäischen Geschichte. Außerdem gibt es Institutionen, die gegründet wurden, um die Erinnerung und das Wissen über den Holocaust zu erhalten und zu verbreiten. Sollten diese nicht einen breiteren Zugang wählen und die Geschichte des Volks der Roma in ihre Bemühungen um Gedenken aufnehmen?
Viele Jahre lang war die Erinnerung an die Massenvernichtung der Roma und Sinti praktisch nicht existent. Während die neu gegründete Bundesrepublik Deutschland die jüdischen Opfer rasch anerkannte, schwieg sie Jahrzehnte lang bezüglich des Völkermords an den Roma und Sinti und gewährte den Menschen, die den Alptraum des Krieges überlebt hatten, kein Recht auf Entschädigung. Heute ist das Gedenken an die Verbrechen gegen die Roma und Sinti aber ein wesentliches Thema für die Roma und Sinti-Gemeinden und ihre Führungen. Dies ist nicht nur aus humanistischen Erwägungen der Fall, auch nicht nur aufgrund des persönlichen Bedürfnisses Einzelner, die Erinnerung an die Verbrechen der Vergangenheit aufrecht zu erhalten, sondern aufgrund der ethnogenetischen Bedeutung dieser gemeinsamen Erinnerung für die Gemeinschaft der Roma und Sinti. Die Erinnerung an die Naziverbrechen ist ein vereinender Faktor für diese über viele Länder hinweg verstreute Gemeinschaft mit ihren vielfältigen Dialekten und Kulturen. Sie ist daher ein wesentliches Element, das zum Entstehen einer gemeinsamen nationalen Identität der Roma und Sinti beiträgt.

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Ungarisch-jüdische Zwangsarbeiterinnen in Österreich 1944/45 – Eleonore Lappin-Eppel

Mit tatkräftiger Unterstützung der ungarischen Gendarmerie gelang es dem von Adolf Eichmann geleiteten „Sondereinsatzkommando der Sicherheitspolizei und des SD“ (SEK), zwischen dem 14. Mai und dem 9. Juli 1944 437.000 Jüdinnen und Juden aus Ungarn zu deportieren. Die überwiegende Mehrzahl der Deportierten wurde nach Auschwitz verbracht, doch 15.000 wurden nach Strasshof an der Nordbahn umgeleitet, um in Ostösterreich in der Land- und Forstwirtschaft sowie in Gewerbe- und Industriebetrieben Zwangsarbeit zu leisten. Da im Frühjahr 1944 etwa 80.000 jüdische Männer zum Arbeitsdienst der ungarischen Armee eingezogen und damit von den Deportationen ausgenommen waren, fehlten in dieser Gruppe von ZwangsarbeiterInnen die Männer im wehrfähigen Alter. Ihre Frauen mussten nun nicht nur ihre Kinder, sondern oft auch Eltern und Schwiegereltern, die zusammen mit ihnen deportiert worden waren, in der schwierigen Zeit des Zwangsarbeitseinsatzes in Österreich unterstützen. Um die Zahl der Arbeitsfähigen zu erhöhen, konnten Betriebe auch Kinder ab zehn Jahren für schwere Arbeiten einsetzen. Diese erhielten dann die Essensrationen von Erwachsenen, was angesichts des stets quälenden Hungers von großer Bedeutung war. Auch ältere Menschen standen vor der Wahl, zu verhungern oder Arbeiten zu verrichten, die zu schwer für sie waren, um volle Essensrationen zu bekommen.
Die Tatsache, dass Mütter ihre Kinder nur bedingt unterstützen konnten und selbst Wachmannschaften und Vorgesetzten hilflos ausgeliefert waren, führte zu einem Wandel der Rollen in den Familien. Kinder und Mütter wurden zu Partnern im Kampf ums Überleben. Dabei waren sie auf Hilfe von Nichtjuden angewiesen. Vor allem Kinder erregten das Mitleid von österreichischen Frauen, die ihnen am Arbeitsweg Essen oder Lebensmittelmarken zusteckten. Mütter, die von Kollegen am Arbeitsplatz Essen erhielten, hoben dieses ebenfalls für ihre hungernden Kinder auf. Während ZwangsarbeiterInnen in Wien meist von einheimischen Kollegen oder Zivilistinnen unterstützt wurden, waren es in Niederösterreich vor allem Kriegsgefangene, die sich mit ihnen anfreundeten und ihnen Nahrungsmittel, die sie von zu Hause erhielten, abtraten.
Zu Kriegsende sollten die ungarischen Jüdinnen und Juden nach Theresienstadt überstellt werden. Nach der Zerstörung des Bahnhofs Strasshof wurden sie in Richtung Mauthausen in Marsch gesetzt. Dabei wurden noch in den letzten Wochen des Kriegs Hunderte Jüdinnen und Juden Opfer von Angehörigen der Waffen-SS, die das Frontgebiet von Juden säuberten.

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Mädchen zwischen Hoffnung, Zwangsarbeit und Trauer: Ein Tagebuch von 1941/42 – Dieter J. Hecht

Vom 23. April 1941 bis zum 16. Mai 1942 führten die Mädchen der Kwuzah Cherut (Gruppe Freiheit), die der zionistischen Jugendorganisation Haschomer Hazair (Junger Wächter) angehörte, ein Tagebuch. Das Tagebuch der Kwuzah Cherut bietet einen Einblick in das Schicksal der Mädchen in einer Zeit, da jüdische Jugendliche ebenso wie Erwachsene zur Zwangsarbeit außerhalb von Wien verschickt wurden und die großen Deportationen in Ghettos und Konzentrationslager „im Osten“ durchgeführt wurden. Es schildert ihren Alltag, ihre Träume und ihre Hoffnungen, aber auch die Trauer über den Verlust von Freundinnen. Das Tagebuch, das Mitglieder der zionistischen Jugendbewegung gerettet haben, welche die NS-Zeit in Wien überleben konnten, gliedert sich in zwei Teile: einen Allgemeinen, der das Leben und die Zwangsarbeit in Wien und im „Altreich“ umfasst, und ein eigenes „Lagerbuch“ über die Zwangsarbeit in Siems bei Mieste im Großraum Magdeburg. Die Einträge in beiden Tagebüchern verfassten verschiedene Mitglieder der Mädchengruppe abwechselnd. So erzählen die Tagebücher mit verschiedenen Stimmen über das Leben der Mädchen und ihre Reaktionen auf die Verfolgung in Wien und während der Zwangsarbeit.
Am 16. und 17. Mai 1941 wurden fünfzig Mädchen zur Zwangsarbeit ins „Altreich“ verschickt. Im Tagebuch beschrieben sie die Vorbereitungen und dokumentierten die Zusammenarbeit der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ und des Arbeitsamts bei der Ausbeutung der ZwangsarbeiterInnen. Ihr Lagertagebuch begannen sie am 18. Mai 1941 in Siems bei Mieste. Die Mädchen dokumentierten abermals den Lageralltag, beschrieben mit kleinen Nuancen das Aufstehen, die Arbeit, die Qualität des Essens (Mittags Eintopf, sonst ungezuckerten Kaffee), die Nachtruhe ab 21.00 Uhr und die Bedeutung der Korrespondenz mit Wien. Nach drei Tagen bekam das erste Mädchen einen Ausschlag. Die Mädchen vermuteten Scharlach oder Röteln. Die anderen gingen am nächsten Tag trotzdem zur Arbeit. Sie versuchten, trotz Krankheit und anstrengender Arbeit weiterhin die Rituale der Jugendbewegung zu pflegen. Da immer mehr Mädchen erkrankten, durften sie am 14. Juni 1941 nach Wien zurückfahren. In Wien mussten sich die Mädchen wieder zur Zwangsarbeit melden. Im Herbst 1941 stellten sie fest, dass jede über kurz oder lang nach Łódź oder in eine anderes polnisches Ghetto kommen würde. Am 16. Mai 1942 beendeten sie ihr Tagebuch mit der Feststellung, dass es nach der Deportation so vieler Freundinnen „nichts Nennenswertes“ mehr zu schreiben gebe. Die meisten Chaweroth der Kwuzah Cherut wurden deportiert und ermordet.

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Schilderung ohne Worte – Eine Portraitgalerie der Künstlerin Artemis Alcalay: Die letzten griechischen Holocaust-Überlebenden im Kontext der Nazibesatzung und Zwangsarbeit – Zdravka Mihaylova

Die griechische Historikerin Odette Varon-Vassard behauptet, dass das Schicksal der griechisch-sephardischen und romaniotischen Juden im Vergleich zu den Jiddisch sprechenden Gemeinden nach wie vor relativ unbekannt ist. „Bei Kriegsbeginn gab es 70.000 bis 80.000 Juden in Griechenland, von denen über 50.000 in Saloniki lebten. Weniger als 10.000 überlebten, womit eine der ältesten jüdischen Gemeinden in Europa vernichtet wurde.“
Die griechische Künstlerin Artemis Alcalay erforscht in Portraits von Holocaust-Überlebenden die Auswirkungen der Besatzung und Deportationen auf das Leben und die Werte der jüdischen BürgerInnen Griechenlands. Obwohl diese Portraits die moralischen Komplexitäten vom Leben und Sterben unter der Fremdherrschaft im Kontext der sich entwickelnden politischen Tragödie wiederspiegeln, betont ihre künstlerische Arbeit die Brutalität der Deportation und das Zerbrechen einer ganzen Gesellschaft. Gewalt, Terror und Vernichtung der Naziherrschaft können zwischen den Zeilen einer Schilderung ohne Worte gelesen werden. Die Welt Hitlers „neuer Ordnung“ und der Zwangsarbeit wird in einen emotionalen, persönlichen Rahmen gesetzt, anstatt ein vollständiges Bild ihrer brutalen Realität zu schaffen.

Artemis Alcalay erinnert uns daran, dass in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg die meisten Überlebenden lieber schwiegen. „Nach den 1980er und besonders den 1990er Jahren begann der Holocaust in den öffentlichen Diskurs einzutreten“, sagt sie. „Erst in den letzten 20 bis 25 Jahren haben wir in Griechenland begonnen, öffentlich über das griechische Judentum zu sprechen, mit den ersten schriftlichen Berichten von Zeugen, Vorträgen bei Konferenzen und neuer Forschungstätigkeit. Heute bilden diese fragilen Figuren eine Verbindung nicht allein mit der Vergangenheit, sondern auch mit etwas, das jenseits von Zeit und Geschichte liegt. Sie sind ein riesiges Familienportrait, in dem wir alle vorkommen.“
Der Journalist Nikos Vatopoulos, der für die Athener Zeitung Kathimerini schreibt, ergänzt: „[Alcalays] Fotografien fügen sich zusammen … wie urbane Aquarien der Erinnerung und eine bewegungslose tägliche Routine. Es scheint keine Absicht, Aufzeichnungen zu machen, dahinter zu stehen. Außerdem stehen diese Portraits wie Stiele aus einem großen Strauß, mit einem Band zusammengebunden, das von einer Generation zur nächsten reicht.“

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Künstlerische Freiheit – Von Tanya Ury (2013)

Die Gefangenen in Berlin-Hohenschönhausen waren „Politische“. Psychologische Verhörmethoden wurden konzipiert, um die Persönlichkeit zu brechen, so dass diese Schriftsteller/innen, Künstler/innen und Musiker/innen unverzüglich ihren politischen Aktivismus unterlassen würden. Bei der Ankunft mussten sich alle Häftlinge, ob männlich oder weiblich, nackt ausziehen und einer Leibesvisitation unterziehen; sie wurden regelmäßig auf den Flur gebracht, um dort nackt, die Arme an die Wand gelehnt, für einen langen Zeitraum zu stehen.

Im Mai 2013 nahm ich in Hohenschönhausen an einem Fotoworkshop teil, mit der Gelegenheit, die Räumlichkeiten zu dokumentieren. Die dabei entstandene Fotoserie erinnert an den Missbrauch, der in Hohenschönhausen vor etwa 25 Jahren stattfand, aber auch an institutionalisierte Folter und Erniedrigung, die heute noch in vielen Regionen der Welt üblich ist. Die Bilder beziehen sich auf die skandalösen, von Gefängniswächtern aufgenommenen Fotos aus dem US-Foltergefängnis Abu Ghraib im Irak 2004. In Artistic Freedom trage ich als Gefängniswärterin oder Vernehmungsbeamtin Militär-Look als Mode-Camouflage, als Gefangene bin ich nackt.

Meine Motivation für die Fotoserie war, die Verhaltenskonstrukte, die von diesem und anderen tyrannischen Regimen gefördert werden, zu verstehen, indem ich sie verkörpere.

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